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Screentime

Beschleicht Sie manchmal ein ungutes Gefühl, wenn Sie ihr Smartphone nutzen in Anwesenheit Ihres Kindes oder wenn Sie ihr Kind vor einen Bildschirm setzen? Egal, ob Sie diese Frage bejahen oder verneinen, empfehlen wir Ihnen den folgenden Text zur Lektüre. Der Alltag mit kleinen Kindern ist anstrengend und erfordert viel Anpassungsleistung von den Eltern. Sich auf die Bedürfnisse eines Kleinkindes einzustellen und daneben alle anderen Aufgaben zu erledigen, gleicht oft einem Spagat. Wenn die Zeit drängt, wird erwartet, dass das Kind sich ruhig verhält und nicht stören soll.

Mit Hilfe von Bildschirmmedien funktioniert dies fast immer und zwar unmittelbar und so lange es sich die Eltern wünschen. Wenn es sich dabei um eine Ausnahmesituation handelt, die alle paar Monate einmal vorkommt, ist gar nichts dagegen einzuwenden. Wenn sich dieses Muster aber in den Alltag einschleicht und es ohne tägliche Bildschirmzeit nicht mehr funktioniert, dann machen wir Kinderärzt*innen uns Sorgen.

Das kindliche Gehirn entwickelt sich nie schneller als in den ersten Lebensjahren. Bei der Geburt hat jede Hirnzelle etwa 2500 Synapsen, das sind Verknüpfungen mit anderen Zellen. Bis zum Alter von drei Jahren versechsfacht sich dieser Wert auf etwa 15'000 Synapsen pro Hirnzelle (1). Wie sich diese Verknüpfungen bilden, wird direkt beeinflusst von den Erfahrungen, die ein Kind in dieser Zeit macht. Zwischen dem sogenannt freien Spiel mit diversen Materialien und dem Zeitvertrieb am Bildschirm gibt es zwei wesentliche Unterschiede: Beim freien Spiel kann das Kind alles selbst gestalten, es entscheidet selbst, wann z.B. sein Bauwerk aus Klötzen fertig ist. Beim Fernsehen besteht diese Möglichkeit nicht und bei interaktiven Apps gibt das Programm vor, wann eine Aufgabe fertig ist oder erfolgreich beendet wurde.

Der zweite, sehr wichtige Unterschied betrifft die physikalischen Gesetzmässigkeiten, die ein Kind im freien Spiel unmittelbar erfährt – um beim Beispiel mit den Bauklötzen zu bleiben: Wenn der Turm zu hoch wird, kracht er ein. Alle damit verbundenen Sinneseindrücke treffen »physikalisch korrekt« im kindlichen Gehirn ein. Bei Bildschirminhalten ist dies nicht der Fall.

Für eine gesunde Entwicklung braucht ein Kind genügend Erfahrungen, die all seine Sinne ansprechen und somit verschiedene Hirnareale aktivieren. Bildschirmmedien erfüllen dies nicht. Sorgfältig durchgeführte Studien zeigen, dass kleine Kinder mit einer hohen Bildschirmzeit schlechtere Fähigkeiten entwickeln im Bereich der körperlichen Geschicklichkeit (Motorik), der Denkprozesse (Kognition) und der Selbststeuerung (Exekutivfunktionen) (2). Ähnliches zeigt sich auch bei der Sprachentwicklung. Kinder lernen eine Sprache durch emotional wertvolle Interaktionen mit anderen Menschen. Wird diese Interaktionszeit durch Bildschirmzeit verkürzt, so ergibt sich daraus eine messbar schlechtere Sprachentwicklung (3).

Kurz gesagt ist Bildschirmzeit für ein kleines Kind verlorene Zeit, es entwickelt sich nämlich in dieser Zeit deutlich langsamer weiter als es dies täte ohne Bildschirm. Auch für später in der Schulzeit ist mit negativen Folgen zu rechnen. Fragt man Lehrer mit vielen Jahren Berufserfahrung, so wird immer von einer deutlichen Zunahme des Anteils jener Kinder berichtet, die sich schlecht konzentrieren können. Natürlich können hierfür eine Vielzahl von Einflüssen ursächlich sein. Eine übermässige Bildschirmzeit in der frühen Kindheit ist aber mit grosser Wahrscheinlichkeit einer der wichtigsten Gründe dafür. In diesem Zusammenhang muss auch ganz klar vor dem im Hintergrund dauernd laufenden Fernseher gewarnt werden, auch wenn die kleinen Kinder gar nicht auf den Bildschirm schauen (4). Schon nur die Geräuschkulisse führt bei kleinen Kindern zu sogenannten »Orientierungsreaktionen«, also zum Aufblicken und Suchen der Geräuschquelle, wenn da neue und verschiedene Geräusche zu hören sind. Das Kind wird dabei jedes Mal aus seiner aktuellen Tätigkeit herausgerissen und wenn dieser Zustand eher der Normalität als einer Ausnahme entspricht, ist damit zu rechnen, dass sich dies negativ auf die Konzentrationsfähigkeit des Kindes auswirken wird. Etwas provokant aber wohl leider zutreffend kann zusammenfassend angenommen werden, dass Sie als Eltern die Zeit, die sie mit dem Platzieren ihres Kleinkindes vor einem Bildschirm sozusagen «gewinnen», später doppelt und dreifach wieder investieren müssen zur Bewältigung von Schul- und Lernproblemen ihres Kindes.


Quellen:
1) B. Worthen, «What Happens When Toddlers Zone Out with an iPad”, The Wall Street Journal, 22. Mai 2012.
2) Pagani LS, Fitzpatrick C, Barnett TA. Early childhood television viewing and kindergarten entry readiness. Pediatr Res. 2013 Sep;74(3):350-5. doi: 10.1038/pr.2013.105. Epub 2013 Jun 20. PMID: 23788060.
3) Madigan S, McArthur BA, Anhorn C, Eirich R, Christakis DA. Associations Between Screen Use and Child Language Skills: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatr. 2020 Jul 1;174(7):665-675. doi: 10.1001/jamapediatrics.2020.0327. PMID: 32202633; PMCID: PMC7091394.
4) Anderson DR, Subrahmanyam K; Cognitive Impacts of Digital Media Workgroup. Digital Screen Media and Cognitive Development. Pediatrics. 2017 Nov;140(Suppl 2):S57-S61. doi: 10.1542/peds.2016-1758C. PMID: 29093033.

KindEssenz - Worauf es in der frühen Kindheit wirklich ankommt | Ein Angebot der Kinderarztpraxis Dres. med. Anna & Mathias Pirker | Interlaken